Seit geraumer Zeit wird von einer Renaissance des Kunsthandwerks gesprochen. Das Interesse des Publikums wird gerne erklärt mit der Sehnsucht nach Authentizität, nach Begreifbarem, von Hand Gefertigtem in einer zunehmend komplexen, technisierten und anonymen Welt. Doch ist bis heute gestaltendes oder künstlerisches Handwerk – hierzulande gerne auch angewandte Kunst genannt – mit übermächtigen Konkurrenten konfrontiert. Auf der einen Seite sind dies große Teile der Industrie und des Handels, die jede Ware möglichst billig anbieten. Auf der anderen Seite ist es die hochpreisige Luxusindustrie mit ihrer Werbemacht. Hinzu kommt, dass Handwerk und Kunsthandwerk im Lauf der Industrialisierung degradiert wurden, und zwar durch die einseitige Fokussierung auf das Intellektuelle in der Gesellschaft ebenso wie in der Kunst. Damit verbunden waren Grenzziehungen und Kategorisierungen mit weitreichenden Folgen.
In der Ausstellung Kunst–Handwerk zwischen Tradition, Diskurs und Technologien, die nach Graz und Leipzig jetzt in der Kestner Gesellschaft in Hannover zu sehen ist, werden diese Grenzziehungen und Kategorisierungen in Frage gestellt (Seite 24). Neu ist, dass dies nicht von Seiten des Kunsthandwerks oder der angewandten Kunst geschieht, sondern durch KünstlerInnen und KuratorInnen der sogenannten freien Kunst selbst. Die Ausstellung Kunst–Handwerk „fragt danach, wie heute ein fruchtbarer Dialog zwischen den beiden Bereichen aussehen könnte, und rückt beide in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang“, so Barbara Steiner aus Graz in ihrem Vorwort zum begleitenden Katalog.
Was die industrielle Massenproduktion betrifft, so hat diese längst auch die Landwirtschaft und die Tierhaltung vereinnahmt – mit erschütternden Folgen, wie gerade in der Coronakrise sichtbar wird. Dagegen haben sich in der Luxusindustrie handwerkliche Techniken und Wertvorstellungen erhalten. Allerdings dient in dieser Branche der Mythos der Handwerkskunst und des Einzigartigen manchmal auch nur der Imagebildung oder um das Gewissen der LuxuskäuferInnen zu beruhigen – falls das überhaupt nötig ist. Doch ist in den letzten Jahren in die Beziehung zwischen Luxusunternehmen und Kunsthandwerk Bewegung geraten.
Neben der spanischen Loewe Foundation, die seit vier Jahren den hochdotierten, weltweit ausgeschriebenen Loewe Craft Prize vergibt (Seite 44), fördert auch die Schweizer Michelangelo Foundation in beeindruckender Weise das Kunsthandwerk. Für Franco Cologni, neben Johann Rupert einer der beiden Gründer dieser Stiftung, ist die Zeit jetzt reif für einen „handwerklichen Humanismus“(Interview Seite 36).
Es würde zu weit führen, dieses Thema hier ausgiebig zu diskutieren. Wichtig ist, dass Kunsthandwerk und Angewandte Kunst gerade eine Neubewertung zu erfahren scheinen. Wir befassen uns gerne damit, denn das ist seit der Gründung von Art Aurea 1985 unser zentrales Thema.
Art Aurea Nr. 41 (das dritte von insgesamt vier Heften in diesem Jahr) ist ab 6. Oktober 2020 in führenden Galerien, am Bahnhofskiosk und ausgewählten Zeitschriften-Verkaufstellen erhältlich. 88 Seiten + 4 Seiten Umschlag, Einzelverkaufspreis 12 Euro. International 14 Euro. Oder abonnieren Sie jetzt hier.