Die erste Ausgabe des Jahres 2020 befasst sich in verschiedenen Beiträgen mit einem neuen Selbstverständnis innerhalb der Angewandten Kunst, das aus der gegenwärtigen Menschheitskrise erwachsen könnte. Das folgende Editorial führt in die Thematik ein.
Am Beginn eines neuen Jahrzehnts fragen sich viele, was der neue Zeitabschnitt wohl bringen wird. Umso mehr, als sich in den 2020er Jahren entscheiden dürfte, ob unsere Nachkommen in 50 oder 100 Jahren noch einigermaßen gut auf diesem Globus leben können. Das Damoklesschwert unserer Zeit heißt bekanntlich Erderwärmung, wobei das Artensterben nicht weniger dramatisch ist. Die bekannten Ursachen sind vor allem das explosionsartige Bevölkerungswachstum seit der Industrialisierung, die auf fossilen Energien basierenden Produktions- und Wirtschaftsformen sowie die moderne Lebensweise verbunden mit einem Mangel an Empathie für andere Lebewesen und die gesamte Natur.
Über viele Maßnahmen wie die Energie- und Verkehrswende, eine andere Entwicklungspolitik oder den übermäßigen Fleischkonsum wird bereits ausgiebig öffentlich diskutiert. Inzwischen ist klar, dass die gegenwärtigen Herausforderungen nur zu bewältigen sind, wenn Politik, Wirtschaft und eine wachsende Mehrheit der Bürger verantwortungsvoll mitwirken. Aber niemand soll in Angst erstarren. Begreifen wir lieber die notwendige Transformation als Chance, neu und kreativ zu denken und zu handeln. Daraus könnte sich durchaus eine bessere Welt entwickeln – nicht nur für uns Menschen, sondern für alle Lebewesen.
Dass die Angewandte Kunst dabei vorbildlich mitwirken kann oder will, deutet Christoph Thun-Hohenstein, Generaldirektor des MAK in Wien, an: „Das Ausstellungsprogramm 2020 versteht sich als Plädoyer für Qualität und Ästhetik sowie als Aufruf zur Abkehr von Massenkonsum und Ausbeutung unseres Planeten. Fortschritt braucht neue Konzepte, die auf Wertschätzung von ressourcenschonend gestalteten Dingen abzielen. Es geht darum, sozial verantwortungsvolle Klimafürsorge in den Mittelpunkt des kreativen Prozesses zu rücken.“
Angewandte Kunst und die Gestaltung und Fertigung in anspruchsvollen Werkstätten und Manufakturen beinhaltet per se Klimafürsorge. Denn ihre Erzeugnisse sind hochwertige Kulturgüter, die einen dauerhaften Gebrauch nahelegen. Dagegen musste die industrielle Massenproduktion sehr früh auf schnellen Konsum setzen, um ihre Absatzmöglichkeiten zu erhalten – Stichwort geplante Obsoleszenz. Dass diese Ära jetzt bald zu Ende gehen muss, steht außer Frage. Doch damit dies gelingt, müssen Alternativen sichtbar werden und es bedarf Beispiele und Vorreiter. Wie etwa Hannah Ryggen, die mit ihrer Webkunst gegen Ungerechtigkeit und (politischen) Terror in der Welt protestiert hat, Seite 50. Oder wie Markus Stenger, der als Architekt auf Recycling oder Umnutzung von Gebäuden setzt, statt wie heute oft üblich auf Abriss, Seite 42. Die niederländische Schmuckkünstlerin Beppe Kessler betont in ihren Konzepten das Geistige gegenüber der Materie, Seite 22. In der gegenwärtigen Situation ist das weit mehr als eine philosophische Frage, die es zu vertiefen gilt.
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