Mein sechzigster Geburtstag rückte bedrohlich näher. „Wärst du bereit, drei Wochenenden für ein Geburtstagsgeschenk aufzuwenden?“ fragte mich die beste aller Ehefrauen – wohlwissend, dass bei uns just in betreffendem Zeitraum ein kerniger, zehnwöchiger Umbau anstand, bei dem ich viel Zeit für Eigenleistung geplant hatte. „Das müsste schon etwas ganz Besonderes sein!“, war meine zögerliche Antwort. Es wurde überwältigend besonders: Ich sollte ein Paar eigene Schuhe unter Anleitung eines Maßschuhmachers herstellen.
Mit drei anderen Kursteilnehmern sammelten wir uns um den Arbeitstisch von Benjamin Bigot, der uns als erstes den gesamten Werdegang eines Schuhs erklärte. Und schon wurde es praktisch. Der Leisten – das ist der nach einem Fuß gefertigte Holzschuh, um den der Lederschuh aufgebaut wird – musste geglättet, die gewünschte Spitze geformt und die Mittellinien festgelegt werden. Und schon war es an der Zeit, das Modell vom dreidimensionalen Leisten auf ein Blatt Papier zu übertragen. Benjamin Bigots Erklärungen waren fachmännisch und flott – eben ein Meister am Werk. Immer wieder tauchte die Frage auf: „Wie ging das nochmal?“ Aber der Ausbilder im Handwerk hat die Geduld, die Handgriffe immer wieder zu erklären, bis wir sie selbst ausführen konnten.
Nach dem Gekritzel und Gezirkel entstand ein Bild von den Lederstücken, die nun anzuzeichnen und auszuschneiden waren. Ein ganz besonderer Moment, denn nun wurde es ernst. Die drei Stücke zu einem Schaft zu nähen, war nicht ohne. Ich nähe bei uns zu Hause zwar auch die Gardinen und flicke die Hosen, aber das Ungetüm von Schusternähmaschine ist eine Diva, die man gut behandeln muss. Bis auf einige Stiche über das Ziel hinaus und Nähte mit Wellendesign hat alles gut geklappt und ich kann allen stolz präsentieren: „Selbst genäht – offensichtlich!“ 🙂
Der handwerklich anstrengendste Teil wartete nun: Die Brandsohle und den Schaft auf den Leisten nageln und mit dem Rahmen von Hand Stich um Stich mit zwei gegenläufigen Fäden vernähen. Wenn dann ein Finger vom Ziehen des Fadens wund und blutig war, hatte man ja noch ein paar Ersatzfinger dabei, mit denen es weitergehen konnte. Das bisschen Schmerz für das Gestalt annehmende Ziel – was soll’s, nehmen wir es sportlich! Danach konnten sich die Finger beim Füllen des Rahmens und Aufbau der Sohle wieder erholen: Kleber aufstreichen, warten und trocknen lassen, auflegen, hämmern. Das alles auf einem kleinen Hocker sitzend mit den Schenkeln als Arbeitsfläche – und ich hätte mir keine andere Position für die nötigen Handgriffe vorstellen können. Die Schuster machen es seit Jahrhunderten so. Und genau dieses Gefühl machte sich in den Tagen breit: man ist mit einer langen und ausgereiften Tradition in Berührung gekommen und beginnt zu schätzen, mit wie viel Kunst, Sachverstand, Können und Liebe zum Handwerk so ein Maßschuh entsteht. Es geht um mehr als nur ein Fortbewegungsmittel, das auch schon ansehnlich sein soll – es soll ein Schuh werden, der einmalig ist, meine persönliche Handschrift trägt und perfekt auf meinen Fuß passen soll … aber so weit waren wir noch nicht.
Jetzt ging es um den letzten Schliff. Sohle und Absatz in Form bringen – das sollte besser der Meister für mich machen. Denn einmal an der Schleifmaschine abzurutschen hätte schnell zu einem Loch im Leder führen können – und mein Schweiß und Blut wären umsonst geflossen. Nun wurde der Rand der Sohle eingefärbt und der Künstler setzte auf der Sohle sein Signet. Jetzt kam der Moment, auf den alles zulief: Den Leisten aus dem Schuh ziehen und anprobieren. Es war ein einmaliges Erlebnis. Einen Schuh überzustreifen, der auf „den Leib gegossen“ ist, das hat was.
Während ich hier abends um halb zwölf sitze und diesen Text schreibe, steigt die Vorfreude in mir auf, morgen wieder meine Schuhe anzuziehen. Ich werde sie den ganzen Tag tragen und am Abend nicht das Gefühl haben, endlich aus den Schuhen rauszuwollen. Vielleicht sollte ich sie auch mal eine Nacht anlassen – wie bei einem 24-Stunden-Rennen – einfach um zu sehen, ob sie mich irgendwann nerven. Aber ich glaube, das würde nicht der Fall sein. Doch könnte meine Frau genervt sein; das will ich nicht riskieren.
Ach ja, die Arbeitsatmosphäre in Bens Werkstatt war einfach genial. Jeder wurde ermutigt, Fehler waren keine Tragödie, sondern wurden ausgemerzt oder zu speziellen „Designnoten“ verarbeitet. Zu Mittag saßen wir draußen in der Sonne, aßen selbstgemachte Gerichte bei einem Glas Rotwein und jeder Passant wurde freundlich gegrüßt – entspanntes Savoir vivre mitten in Grötzingen.
Die Auswahl an Designs ist vielfältig und selbst exotische Materialien stehen zu Verfügung: Bei der Frage, ob jemand Lachsleder verarbeiten möchte, dachte ich nur an Kroko-Imitat nur eben schuppig und staunte nicht schlecht, welch schönes Häutchen aus „Lachsfell“ gemacht wird.
Unserem Schuster in Altensteig habe ich meine Schuhe stolz präsentiert. Zuerst hatte ich ihn gefragt, ob ich bei ihm unter seiner Anleitung ein paar Schuhe machen dürfte, aber er hatte dankend abgelehnt – so kam meine Frau auf die Idee mit dem Workshop. Fachmännisch hat er den Schuh angeschaut und die anfängliche Skepsis hat sich in Bewunderung für mein Laienwerk gewandelt: Wirklich gute Arbeit und ein schöner Schuh. Das war wie ein Ritterschlag. Der Workshop war ein rundum erfüllendes Erlebnis und ich möchte keine Minute und meine Schuhe nicht missen.
Horst O. Koch, Altensteig im Schwarzwald
Nachsatz: Wer so in ein traditionsreiches und essentielles Handwerk eintaucht, wird eine ganz andere Wertschätzung für Dinge des täglichen Gebrauchs entwickeln. Benjamin Bigot und seine Kursteilnehmer geben ein lebendiges Beispiel, wie Handwerkstraditionen gepflegt und bewahrt werden können. Chapeau!
Benjamin Bigot
Niddastrasse 26
76229 Karlsruhe-Grötzingen
Deutschland
www.originelleschuhe.de
ben@originelleschuhe.de
Seit einigen Jahren haben sich Maßschuhmacher in mehreren Ländern zusammengeschlossen und betreiben folgende Webseiten:
Deutschland: www.diemassschuhmacher.de
Schweiz: www.diemassschuhmacher.ch
Österreich: www.diemassschuhmacher.at
England: www.shoemakers.org.uk