Zwischen zwei Welten

Ritsue Mishima zählt zu den innovativsten Glaskünstlerinnen der Gegenwart. Dabei ist die 1962 in Kyoto, Japan, Geborene eine Quereinsteigerin. Inzwischen erreichen ihre großen skulpturalen Glasobjekte fünfstellige Preise.

Art Aurea: Sie fertigen seit zwanzig Jahren Glasobjekte. Davor arbeiteten Sie als Designerin für Anzeigen-Firmen und gestalteten auch Kunstinstallationen mit Blumen. Warum haben Sie beschlossen, sich einem anderen Metier zuzuwenden?

Ritsue Mishima: Es war eine Herausforderung, ich bin ganz einfach meinen Weg gegangen …

Ritsue Mishima Interview

AA: Japan ist berühmt für seine Keramiktradition und die Künstler in diesem Genre. Aber wie stellt sich die Situation im Bereich der Glaskunst in Ihrem Land heute dar? Und wie ist die Wertschätzung von Glasobjekten in der Kunstszene?

RM: Ich weiß nicht, wie es um die Glaskunst in Japan steht. Ich kenne nur die Situation in Europa. Ich habe in Venedig angefangen, Glasobjekte zu kreieren. Ich arbeite mit Galerien in Japan zusammen, aber fertige meine Objekte nach wie vor ausschließlich in Venedig. Ich weiß, dass die Japaner Glas schätzen, seine Reinheit und Einfachheit, und sie haben ein Faible für geheimnisvolle Dinge. Die Grenze zwischen dem Glashandwerk und der bildenden Kunst verschwimmt immer mehr. Die Leute schätzen das, was ihnen gefällt.

AA: Warum haben Sie beschlossen, mit Glasbläsern in Murano zusammenzuarbeiten? Wie war die Kooperation mit diesen Handwerkskünstlern am Anfang und wie hat sie sich bis heute entwickelt?

RM: Da ich in Venedig anfing, als Glaskünstlerin zu arbeiten, hat sich das zwangsläufig ergeben. Meine Kunst entstand und entwickelte sich in der Zusammenarbeit mit ihnen. Wir haben die gleichen Ziele und arbeiten im Team, hochkonzentriert und als Einheit. Wir kämpfen immer gemeinsam, gegen die Zeit, die Hitze, und mit dem Material – auf der Suche nach Schönheit.

Ritsue Mishima Interview

AA: Muranoglas ist üblicherweise sehr bunt. Warum haben Sie sich entschieden, keine Farben für Ihre Werke zu verwenden?

RM: Weil in farblosem Glas jede Farbe zu finden ist. Glas wird pures Licht, indem es das Licht im umgebenden Raum reflektiert. Reflektiertes Licht inspiriert mich und entführt mich in einen anderen Bereich der Realität. Das eigentliche Konzept meiner Arbeit dreht sich nicht um Glas an sich, sondern um Licht.

AA: Sie sagen, dass Sie Ihre Inspiration aus der Natur und dem Universum beziehen. Können Sie erläutern, in welchen Aspekten Ihrer Arbeit dies zum Ausdruck kommt?

RM: Jeder hat seine eigene Vorstellungskraft und mag etwas anderes an einem Kunstwerk beziehungsweise empfindet etwas anderes bei seinem Anblick …

Ritsue Mishima Interview

AA: Welche Schritte umfasst Ihre Arbeit von Ihren ersten Ideen bis zum fertigen Objekt? Und welche Techniken bevorzugen Sie und warum?

RM: Zuerst mache ich mir Gedanken über die Bestimmung des Werkes, dann horche ich auf meine Intuition und halte eine Inspiration schnell in einer Zeichnung fest. Anschließend spreche ich mit meinem Glasbläsermeister darüber und wir fangen an, ein Glasobjekt zu schaffen. Ich werde gleichsam zum Dirigenten eines Orchesters und leite das Team bis zum Ende des Prozesses. Auch der Prozess inspiriert mich: heißes, wie Honig fließendes Glas, die Bewegungen der Glasbläser, unser Kampf gegen die Zeit und die Hitze … all dies fließt in die Schaffung von etwas Einzigartigem ein.

AA: Seit 2009 werden Künstler wie Tony Cragg, Jannis Kounellis oder Thomas Schütte eingeladen, Glasobjekte für das Glasstress-Projekt des Berengo Studios zu gestalten. Glauben Sie, dass dies einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Glaskunst leistet?

RM: Ich denke schon. Muranoglas hat eine tausendjährige Tradition. Aber die goldenen Jahre sind Geschichte. Alle Kunsthandwerke werden verschwinden, wenn sie sich nicht der Kunst annähern. Glas ist ein geheimnisvolles Material, und viele Künstler haben eine Vorliebe dafür entwickelt. Glas wird immer geschätzt werden.

Ritsue Mishima Interview

AA: Können Sie einige Künstler und Kollegen im Bereich der Glaskunst nennen, die Sie besonders schätzen, und weshalb?

RM: Ich versuche, mich nicht darum zu kümmern, was andere Künstler in meinem Genre tun. Ich konzentriere mich nur auf meine Arbeit.

Ritsue Mishima Interview

Ritsue Mishima lebt abwechselnd in Venedig und in ihrer japanischen Heimat. Die Aufnahmen ihres Studios in Venedig machte Oliver C. Haas. Dieses Porträtfoto und die Objektfotos sind von Francesco Barascuitti

AA: Sie leben in Japan und Venedig. Was bedeutet dies für Sie als Künstlerin, aber auch für Sie persönlich?

RM: In Venedig mache ich meine Kunst. In Kyoto treffe ich mich Leuten und wohne bei meiner Familie. Ich verbringe einen Monat in Venedig und einen Monat in Kyoto. Das bedeutet, dass ich an beiden Orten alles fertigstellen muss, was ich dort anfange. Es bleibt weder genügend Zeit noch ist es möglich, irgendetwas unfertig zu lassen.

Fragen Agata Waleczek

Erschienen in ART AUREA 3-2016