Schmuck für alle

Viele Männer lehnen ihre weibliche Seite nicht mehr ab und tragen ästhetischen Schmuck. Was bedeutet das?

Joosep mit Brosche <em>METANOIA II</em> von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl, <br> 12 x 4 x 3 cm
Joosep mit Brosche METANOIA II von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl,
12 x 4 x 3 cm
Yuki mit Broschen <em>METANOIA V & VI</em> von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl, <br> 12 x 4 x 3 cm
Yuki mit Broschen METANOIA V & VI von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl,
12 x 4 x 3 cm

Letztes Wochenende saß mir in der Berliner U-Bahn ein junger Mann gegenüber. Um den schlanken Hals trug er eine lange, golden schimmernde Halskette, die aus kleinen, aneinandergereihten Plastikschnecken bestand. Er schien mit Freunden zu einer Feier unterwegs zu sein, der eher lustige als schöne Modeschmuck sollte anscheinend ein Party-Accessoire sein. Warum nicht?

Schmuck sei vor allem etwas für Frauen, lautet ein unsinniges Vorurteil. Nicht nur, weil es in der Geschichte und heute immer wieder Männer gab und gibt, die sich schmücken und schmückten. Man denke nur an Herrscher vergangener Zeiten. Ihre Insignien Krone, Halskette oder Zepter sind historische, ungleich bedeutungsvollere Vorläufer der Rolex-Uhren und Manschettenknöpfe der heutigen Geschäftsmänner. Diese Accessoires des (Geld-)Adligen dienen einem repräsentativen Zweck, wobei wir bei der Frage wären: Warum schmückt man sich? Für beide Geschlechter kann Schmuck Funktionen wie u.a. Zweckmäßigkeit (z.B. Haar oder Kleidung zu befestigen), Symbolik (Statussymbol, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppe symbolisierend oder – wie beim Ehering oder Trauerschmuck – als Symbol von persönlicher Bedeutung), Schutz (Talismane) und die Rolle als künstlerisches Medium oder Wertanlage erfüllen. In der Vergangenheit und teils heute auch noch nutzten und nutzen westliche Frauen Schmuck häufig als ästhetisches Detail, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Viele Trägerinnen hoffen, dass indem sie sich mit etwas Schönem in Verbindung bringen, dessen Schönheit ihre eigenen Reize unterstreicht. Gleichberechtigt spielt oft auch das Symbolhafte eine wichtige Rolle, zumal ein wertvoller Schmuck etwas über den sozialen Status und die materielle Situation der Trägerin aussagen kann.

Westlichen Männern war das symbolische Potential von Schmuck traditionell wichtiger als Ästhetik. Das betrifft sowohl königliche Abzeichen – wobei auch das prunkvolle Aussehen als Verweis auf eine höhere oder göttliche Bestimmung machtlegitimierend wirken sollte – als auch militärische. Seit ein paar Jahrzehnten erforschen Männer verstärkt das rein ästhetische Potential von Schmuck, man sieht einzelne Ohrringe, Lederarmbändchen, Goldkettchen. Die Ästhetik dieses Männerschmucks unterscheidet sich gewöhnlich, z.B. durch Derbheit, von klassisch weiblichem Schmuck.

Neuere Entwicklungen deuten darauf hin, dass wir uns auf dem Gebiet des Schmucks und der Mode in einer umgreifenden gesellschaftlichen Veränderung befinden: Heterosexuelle Männer abseits der Subkulturen tragen wieder verstärkt Schmuck, der gern auch femininer sein darf. Die Avantgarde aus Prominenten wie David Beckham und Justin Bieber macht es vor. Beeinflusst von metrosexuellen Einflüssen, die seit mehreren Jahren verstärkt das Männerbild prägen (der Schauspieler Alain Delon, der bereits in den 1960–70ern Goldschmuck trug, dürfte hier als besonders früher Vorreiter gelten) pfeift der moderne Mann auf das traditionelle maskuline Rollenbild und schmückt sich nach Lust und Laune. So konnte die Inhorgenta 2015 bei Männerschmuck aus Titan, Stahl, Carbon und Keramik, aber auch aus Gold und Silber eine erhöhte Nachfrage melden.

Ironischerweise ist es ein Trend, der erst durch die voranschreitende Gleichberechtigung ermöglicht wurde: Nachdem sie den Frauen im Zuge des 19. Jahrhunderts wichtige Rechte gebracht hat, entlastet sie nun die Männer von den Zwängen des Patriarchats – was zunächst für Verunsicherung sorgt, auf lange Sicht aber Vorteile birgt. So dürfen Männer inzwischen unverkrampft Dinge ausprobieren, die früher als Tabus galten und gesellschaftliche Ächtung nach sich zogen. Mit einer zunehmenden Liberalisierung der Gesellschaft verabschiedet sich der Mann langsam von seiner Uniform und gibt sich einem neuen Individualismus hin. Jean Paul Gaultier, Rick Owens, Ivanman oder Yves Saint Laurent sind Namen, die in diesem Zusammenhang genannt werden sollten: Mit ihrer Vision des Mannes, der seine feminine Seite betont, kämpfen diese Modedesigner für das Recht, sich als Mann in Kleidung und Schmuck auszuleben.

Paula mit Brosche <em>METANOIA III</em> von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl, <br> 12 x 3 x 2 cm
Paula mit Brosche METANOIA III von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl,
12 x 3 x 2 cm
Tanya mit Brosche <em>METANOIA I</em> von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl, 9 x 7 x 3 cm
Tanya mit Brosche METANOIA I von Darja Popolitova. Stabilisiertes Holz, Silber, Stahl, 9 x 7 x 3 cm

Die Emanzipation der Frauen ist eine ähnliche und doch entgegengesetzte (und ist eher als bei den Männern eingetreten): Sie lösen sich los von ehemals mit ihrer Weiblichkeit verbundenen Zwängen. Die klassische „Schönheit“ ihres Schmuckes tritt für sie in den Hintergrund, weil ihre eigene Schönheit nicht mehr als ihr primäres Potential angesehen wird. Die Frau darf auf Dimension und Charakter bestehen, den sie in ihrem Erscheinungsbild unterstreicht. In der Öffentlichkeit wurde mit dem Auftreten von Madonna, Lady Gaga und anderen Ikonen das Stereotyp Frau durch die Idee der Frau als Individuum ersetzt. Dies lässt sich oft an ihrem Schmuck ablesen, dessen Aussehen stärker von dem Wunsch nach Individualität geprägt wird.

Manche befürchten im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen ein Verschwinden der Geschlechterrollen. Eine unbegründete Sorge, zumal man sich fragen muss: Wofür ist eine Geschlechterrolle gut, wenn sie nicht frei gewählt ist? Schließlich ist die ganze Entwicklung ein Sieg für die freiheitliche Selbstbestimmung, zu einem neuen, nicht gleichmachenden, sondern bereichernden Multisex-Begriff. Es wäre der Schritt nach dem androgynen Unisex-Minimalismus, der in seiner Zurückhaltung möglichst wenig Angriffsfläche bietet.

Text Agata Waleczek

Photos mit Schmuck zum Thema Androgyny: Jewellery Beyong Gender von der estnischen Schmuckkünstlerin Darja Popolitova. Fotografin Diana Pashkovich, Make-up Pirge Markus, Haare Maria Dihtjar, Stylist Sofja Litvinenko, Ort JEVI photo agency

Für ihre freundliche Unterstützung gilt mein Dank Cornelie Holzach vom Schmuckmuseum Pforzheim und Wolfgang Böhm von der Hochschule Pforzheim.