Die Möbelobjekte und Leuchten des Neuen deutschen Designs waren ein Gegenkonzept zu der in den 1980er Jahren als dogmatisch empfundene Gute Form Max Bill’scher Prägung. Auch eine deutsche Antwort auf die italienische Postmoderne, auf Studio Alchimia und Memphis. Christoph R. Siebrasse und Rainer Schenk waren Teil der Bewegung. Auch wenn das Neue deutsche Design längst Geschichte ist, beide haben bis heute weitergemacht.
In Ausgabe 3-1993 erschien in Art Aurea ein Beitrag mit dem Titel „Wieviel Avantgarde ist (noch) erlaubt?“ Rechts platziert, ein ganzseitiges Photo mit Christoph R. Siebrasse: Der Möbelkünstler auf seinem „Freidenker“. Die Konstruktion aus Vierkantstahl erinnert an alte Schulbänke, könnte aber auch eine minimalistische Skulptur sein und ist auch als Stehpult geeignet. In dem Stahlgestell drei Marmorplatten, die unterste, etwa 50 cm hoch platziert, für die Füße, die mittlere eine Sitzfläche, oben eine kleine Arbeitsplatte. Siebrasse sitzt, die Handflächen auf der Tischplatte, der Rücken senkrecht. Körperhaltung und Konstruktion sind eins. Der Möbelkünstler zeigt, was der „Freidenker“ ermöglichen soll: Bewusstes, fühlbares Sitzen, konzentriertes Arbeiten, Meditation.
Manfred Schneckenburger beschrieb 1996 anlässlich einer Ausstellung das Konzept so: „Denn der Humanist Siebrasse hat etwas Wichtiges erkannt: dass Wohnen, zum Raum gehören, sitzen, liegen, aktiv interpretiert werden muss und aktiv leben heißt. Mehr noch, er gibt dieser Aktivität Spannung und Sammlung, Bewegung und Ruhe, Individualität und Stimulation. Er verweigert uns die kommode, allzu kommode Schmeichelei schmiegsamer Körperstromlinien und versteht Ergonomie eben nicht als totale Anpasserei, sondern als genauen Appell an unsere Körpererfahrung. Er fordert diese Körpererfahrung heraus – auch um den Preis, dass er unser Rückgrat manchmal durch einen Widerstand an den unteren Rückenwirbel erinnert.“
Der „Freidenker“, eines der spektakulärsten Objekte des Neuen deutschen Designs, war kein Prototyp für eine spätere Serienfertigung wie etwa die Bauhaus-Möbel. Siebrasses „Sensilla“ von 1988 hat ganz sicher das Potential dazu. Denn der Stuhl ist nichts weniger als der erste echte Freischwinger und ein Meilenstein in der Geschichte der Sitzkultur. Im Gegensatz zum Entwurf von Ludwig Mies van der Rohe aus dem Jahre 1927 kann der „Sensilla“ durch die an vier Seilen aufgehängte Sitzfläche in jede Richtung frei schwingen und nicht nur nach unten und oben wippen. So verbindet der minimalistische Stuhl die Idee von aktivem, bewegten und gesunden Sitzen mit einem Designobjekt. Die Ursprungsversion aus Vierkantstahl mit der Sitzfläche aus Marmor hat ihren Platz in Museen gefunden.
2018 fertigte die Tischlerei und Möbelmanufaktur Frank Weingarten eine Jubiläumsedition des Sensillas in Wenge-Massivholz mit ergonomisch geformten Rückenteil. Er wurde jüngst auf dem Art Aurea Forum im Rahmen der Eunique, Karlsruhe, vorgestellt und begeisterte viele Besucher. Auch nach der Messe kann der Sensilla zum Preis von 1.950 € bei Art Aurea Forum, info@artaurea.de, Telefon 0731-950 84 90 bestellt werden.
Während der Kölner Möbelmesse und den „Passagen“ 2018 widmete die Galerie formformsuche Christoph R. Siebrasse und Rainer Schenk eine Einzelausstellung. Das Formenspektrum zwischen dem minimalistischen Sensilla und und dem neuen Schaukelstuhl „Rosie“ könnte kaum größer sein. Anklänge an Donald Judd und Joseph Beuys bis hin zur Pop Art sind augenfällig. „Siebrasse und Schenk haben sich nie auf einen Stil festlegen lassen“, erklärte der Galerist Martin Bohn. Ein Möbelkunstwerk, das nach dem Mauerfall 1989 entstand, fehlte in der Ausstellung: der von Rainer Schenk bemalte Einheitsschrank. Die rechte, etwas kleinere Schiebetüre deutet den Ostteil an, die größere linke den Westteil Deutschlands. Links und rechts zwei mit Filz belegte Sitzflächen. „Die Fertigung dauerte nur zwei Wochen, denn wir wollten ihn unbedingt auf der Möbelmesse 1990 zeigen“, erzählt Siebrasse. „Der Schrank löste viele Diskussionen aus. Einige westdeutsche Besucher meinten, dass man die Türen lieber wieder etwas auseinander schieben sollte.“
Siebrasse und Schenk wohnten damals im Diplomatenviertel von Bad Godesberg. Der Vermieter, CDU-Mitglied, meinte, dass Helmut Kohl als Kanzler der Einheit den Schrank bekommen müsste. Siebrasse und Schenk stellten ein Exposé her, das Juliane Weber, die Referentin von Kohl, erhielt. Die Künstler bekamen einen Termin zum Aufbau des Einheitsschranks im Flur des Kanzleramtes. Kohl wurde informiert, kam aus der Tür und sagte im sich Wegdrehen, „der gefällt mir nicht!“ Zwei Jahre später kam Dr. Rolf Köster, ein Freund von Siebrasse und Schenk, auf die Idee, den Einheitsschrank dem damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu schenken. Bei einem Neujahrsempfang der FDP in Wuppertal wurde er im Rahmen einer Ausstellung gezeigt. Genscher schaut den Einheitsschrank aufmerksam an und sagte: „Das ist ein sehr schönes Stück, aber wie bringe ich das meiner Frau bei, wir haben doch schon einen Wohnzimmerschrank.“ Noch auf der Ausstellung meinte Köster: „Jetzt ist es genug, jetzt nehme ich ihn.“
Den ersten Sessel fertigte Christoph R. Siebrasse mit 16. „Möbelobjekte für mich und andere zu bauen, war mir ein großes Anliegen.“ Ein von Geburt an blindes Auge verhinderte eine reguläre Schreinerlehre. Private Beziehungen ermöglichten schließlich doch eine adäquate Ausbildung. Seinen Partner, Rainer Schenk, lernte Christoph Siebrasse schon mit 19 Jahren kennen. Damals malte dieser Plattenhüllen von Popstars ab. „Wenn du Maler und nicht Abmaler werden willst, kann ich dich mal mit Künstlern zusammenbringen“, erinnert sich Schenk an den Rat seines Partners. Siebrasses älterer Bruder Michael war Galerist und Mitinitiator von „Neumarkt der Künste“. Aus dieser 1969 gegründeten Ausstellung entwickelte sich später die Art Cologne. Michael Siebrasse war mit Joseph Beuys und Emil Schumacher befreundet. „Und so lernte ich auch durch diese Begegnungen, was ich heute mache und wer ich bin“, blickt Schenk zurück.
1986 gründeten Siebrasse und Schenk die Gruppe „Confrontation – Art & Design“ und im gleichen Jahr das „Avantgarde Designcenter“ auf der Internationalen Möbelmesse Köln, wo sie erstmals ihre Möbel ausstellten. Der Begriff des „Neuen Deutschen Designs“, der von der Gruppe Kunstflug und dem Architektur- und Designhistoriker Christian Borngräber (1945–1992) geprägt wurde, gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ende der 1980-er Jahre öffneten die ersten Designgalerien und stellten künstlerisch gestaltete Möbelobjekte und Kleinserien von Gruppen wie Ginbande, Kunstflug oder Pentagon aus. Von Siebrasses Freischwinger „Sensilla“ wurden bis heute etwa 150 Stück gefertigt.
Die weitgehende Fertigung von Hand in eigenen Ateliers war charakteristisch für das Neue deutsche Design. Manfred Schneckenburger nannte Siebrasse und Schenk deshalb auch nicht Designer, sondern Möbelkünstler und meinte 1996 zum Thema Handfertigung, „… dahinter steckt keine biedere Konfession zum Hausgemachten, sondern eine schlichte Notwendigkeit.“ Anders würden sich diese haptischen Geräte nicht erfinden lassen, erklärt Schneckenburger. „Die Objekte, die bei Art Aurea Forum erhältlich sind, arbeiten wir hier in unserer kleinen Werkstatt oder sie werden von der Manufaktur und Möbelschreinerei Weingarten in Kerpen hergestellt. Doch auch dann stellen wir den Prototyp her.“ Christoph R. Siebrasse und Rainer Schenk sind inzwischen 75 und 68 Jahre alt. Ihre Leidenschaft, Möbel und Kunst zu machen, haben Sie nie verloren. Dass sich beide auch noch für Vintage Autos begeistern, wäre noch einen weitere Geschichte.
Porträtphoto Eric Jobs Text Reinhold Ludwig