Unter den Angewandten Künsten ist die Einbandkunst wohl diejenige mit den meisten Widersprüchen. Zunächst ein gedruckter Text, soll er mit dem Einband so etwas wie ein Werk, ein „Buchwerk“ werden. Fragt sich nur, was für eins? Mit welchem Selbstverständnis geht der Einbandkünstler an seine Arbeit? Versteht er sich als Maler, als Plastiker, als Illustrator, als Grafiker, ganz allgemein als Bildender Künstler oder einfach nur als Buchbinder? Der Blick auf die Einbandkunst der letzten 100 Jahre erweckt den Eindruck, dass sich die deutschen „Meister der Einbandkunst“, die englischen „Designer Bookbinders“ oder die französischen „Relieurs d’Art“ nie einig waren, was sie sein wollten oder könnten. Wen wundert es, wenn die Einbandkunst bizarre Blüten treibt. Wird alles gut, wenn es nur handwerklich ordentlich, technisch besonders raffiniert oder experimentell auftritt?
Als ich im Jahr 1961 nach Paris kam und zum ersten mal französische Einbände mit all ihrem technischen Raffinement bewundern konnte, geriet ich unmittelbar in diese Widersprüche. Meine ältesten Weggefährten waren Zeichnen und Sprache und trotz meines damals noch rudimentären Verständnisses von Bildender Kunst, hatte ich künstlerische Ansprüche. Doch wie sollte ich angesichts der großen Kunst in den Pariser Museen gleichzeitig das geschniegelte Pathos der Einbände des damals in Frankreich hochgelobten Paul Bonet, 1889–1971, verstehen?
Die Unmittelbarkeit des Malens oder Zeichnens auf weißem Papier ließ sich nicht auf den Bucheinband übertragen. Eher schon Techniken der Collage oder des Scherenschnitts. Als ich später dann doch versuchte, zeichnerische Elemente mit Hilfe von Vergoldetechniken einzusetzen, wurde diese Unsinnigkeit schnell offenbar. Seit ich weiß, wie meine Einbände aussehen sollen, arbeite ich kaum noch nach Entwürfen. Wenn überhaupt, reichen Skizzen. Elemente des Linien- und Bogensatzes können im Rhythmus des Erwärmens und Abzischens aufgesetzt werden. Mehrmals im Leben drauf und dran, das Bücherbinden zugunsten einer Restauratoren-, Übersetzer- oder Künstlerkarriere zu verlassen, hat mich das Metier doch immer wieder eingeholt. Gespräche mit Künstlerkollegen verhalfen mir zur notwenigen Distanz zu unserem traditionsschweren Beruf und zum eigenen Tun. Obwohl mich die Restaurierung von Bucheinbänden und das Buchbinden ernährt haben, blieben meine freien und angewandten künstlerischen Arbeiten immer ein Luxus. War ich fleißig gewesen, durften Malerei und Zeichnen in ganz kleinen oder auch großen Formaten in den Vordergrund treten. Die Geste der Zeichnung auf Überzugs- und Vorsatzpapiere zu übertragen, war naheliegend. Es wurde einer meiner direktesten Wege, bildnerische Vorstellungen für den Bucheinband zu nutzen. Die Zeichnung wanderte ins Buntpapier und aus den Buntpapiertechniken entwickelten sich wieder Möglichkeiten für Zeichnung und Gouache.
Meine sehr gegensätzlichen Leidenschaften galten über lange Zeit einerseits dem streng Formellen und dem gestisch Informellen andererseits. Zwischen kontemplativer handwerklicher Langsamkeit und dem Gleichmaß sich wiederholender geläufiger Gesten, zwischen bedachtsamen oder schnellen Strichen und geometrischen Ordnungen, gelangen auch die Umsetzungen für den Bucheinband. Konzeptuelle Strategien und Chance Operations brachten neue und entspannende Freiheiten jenseits kunstgewerblicher Willkür. Es versteht sich von selbst, dass die Beherrschung des Metiers – umfangreiches handwerkliches Repertoire, Materialverarbeitung, Maßverhältnisse und plastische Qualität – untrennbar mit dem künstlerischen Anspruch und dem Streben nach Vollkommenheit verbunden sind. Zwischen grafischen Blättern und Bucheinband bewege ich mich nach wie vor stetig hin und her. Überwog in den 1970er und 1980er Jahren die Geste, widme ich mich seit langem wieder konstruktivistisch Konkretem. Zunächst als Papierpatchwork ausgeführt, erreiche ich nun dank des Computers die Geschlossenheit und den Farbauftrag, der mir vorschwebt.
Gleichgültig ob Papier oder Einband, ob gezeichnet oder am Computer gebaut, mein Thema war und ist die Definition der Fläche: Gleichmäßige oder rhythmische Reihung, Flächenbildung durch Wiederholung in Ebenmaß und Störung, in Gleichklang und Modulation, in Schichtung, Überlagerung, Überschneidung und Fragmentierung. In unauffälliger Dramaturgie versuche ich – je nach dem – mit wenig auszukommen. Selbst die notwendige Komplexität des Aufbaus, (die gelegentlich das Computerprogramm sprengt), wird am Ende zum Einfachen zusammengefasst. Ich suche nicht nach ausgefallenen Materialien. Für den Bucheinband reicht das Naheliegende: Papier, Pergament und Leder. Mit liegt nichts an technischem Raffinement. Experimentelle oder materialästhetische Spielereien interessieren mich nicht. Es geht allein um die formale Qualität, um das Buch als geistige Präsenz in plastischer Körperhaftigkeit. Wahrscheinlich liebe ich deswegen die Meister der Sprache wie Thomas Bernhard und Ilse Aichinger, Adalbert Stifter und Theodor Fontane, Kleist, Heine und Sebald, Nikolai Gogol und Iwan Gontscharow, den Nouveau Roman und Samuel Beckett, James Joyce und den Humor von John Cage…
Mein Rückblick zeigt, dass in ganz frühen Zeichnungen, Radierungen, Aquarellen, Gouachen und auch Einbänden erst nach Umwegen und Blicken nach recht und links eine erkennbare Realität und neue Ordnungen entstehen konnten. Ordnungen, die ab und an auch raumgreifend werden mussten. Auch Ausflüge ins Künstlerbuch habe ich gelegentlich unternommen, aber das ist eine andere Geschichte… Sich selbst gerecht zu werden heißt auch, getrost ins Offene zu laufen.
Text Mechthild Lobisch
Fotos Ulrike Myrzik